Innovationen mit Charakter
Conny Schmid © 2014
Er ist ein bisschen anders als die anderen. Die anderen lasen, als sie klein waren, «Micky Maus» und «Donald Duck». Sein Liebling aber hiess «Hobby. Das Magazin der Technik». Die anderen rannten nachmittagelang über den Rasen, einem Ball hinterher. Er rannte über Wiesen, über ihm seine selbstgebastelten Segelflieger oder Spaceshuttles.
Eines Tages, als er bereits erwachsen und Architekt in einem angesehenen Büro war, fing er an, sich für Drachen zu interessieren. Gleichgesinnte, die er an Drachenfesten im In- und Ausland traf, hatten wettergegerbte Gesichter und spröde Lippen vom Wind. Seine Haut dagegen trägt keine solchen Spuren. Denn die Drachen, die er steigen lässt, sind wie er: ein bisschen anders als die anderen. Seine Drachen brauchen keinen Wind. Sie fliegen in der Stadt, zwischen den Häusern und sogar drinnen in seinem «Drachen-Labor» in Zürich-Altstetten. Es sind «synergetische Drachen», wie er sie nennt, die ersten ihrer Art, erfunden von ihm, Thomas Horvath.
Eigentlich hat der 54-Jährige damit nur die Not zur Tugend gemacht: «Immer wenn ich nach Feierabend auf die Wiese wollte, war der Wind, der den ganzen Tag geweht hatte, plötzlich weg», erzählt er. Statt sich zu ärgern, tat er, was er ohnehin schon von Kindesbeinen an tut: Er begann zu tüfteln.
Flügge auch bei Windstärke null
Er wollte einen Drachen bauen, der keinen Wind mehr braucht. Die richtigen Materialien, leicht und doch reissfest, die richtige Bauweise mussten gefunden werden. Und die richtigen Mittel, seine Drachen millimetergenau passend zusammenzubauen. Denn Leichtigkeit und Präzision sind das A und O, wenn so ein Ding mit einer Spannweite von bis zu 2,76 Metern bei null Wind fliegen soll. Horvath entwickelte eigene, computergesteuerte Verfahren, baute seine Nähmaschinen um, damit sie die dünnen Fäden und den ultraleichten Icarexstoff überhaupt bewältigen konnten.
In der Drachen-Szene, die stets an Neuem interessiert ist, machte sein Name schnell die Runde. Dort ist er heute bekannt wie ein bunter Hund. Auf einer Magerwiese am Waldrand von Altstetten testete er seine Drachen aus. Seine ersten Nullwindkreationen waren noch Lenkdrachen an zwei Leinen. «Man musste viel rennen, es war Arbeit, sie ohne Wind in der Luft zu halten», erzählt er. Der Idee, alles aufs Minimum zu reduzieren, konnte das natürlich nicht gerecht werden. Null Wind, null Stress, maximaler Spass – das war das Ziel.
Mit seinem Dreitagebart, den halblangen, zusammengebundenen Haaren, dem breiten Lächeln wirkt er auch äusserlich eher wie ein Genussmensch, nicht wie einer, der gern Marathons rennt. Und so tüftelte er weiter, bis er den ersten Einleinerdrachen in der Hand hielt, der ohne Wind und Rennerei fliegt. Ein leichter Impuls an der Flugschnur genügt, und der Drachen steigt in die Luft.
Nach Feierabend war der Wind weg
Schon als Architekt habe ihn alles interessiert, was leicht, schwebend und materialsparend ist, sagt er. Doch seinen angestammten Beruf hängte Horvath bald an den Nagel. Für die Baustelle müsse man geschaffen sein. Die Normen und Vorschriften, die ständigen Absprachen und Verzögerungen, das dauernde Dreinreden von Leuten, die seine Ideen nicht verstehen wollten, das alles lag ihm nicht. «Vom idealen Produkt ist man auf dem Bau weit weg», erklärt er. Er wandte sich dem Industriedesign zu – und dann investierte er auch beruflich in das, woran sein Herz am meisten hing: Er baute Nullwinddrachen.
Seit einigen Jahren lebt er vom Verkauf seiner auch optisch minimalistisch gehaltenen Segler, die er alle eigenhändig fertigt, zwei bis drei pro Tag. Sie sind denn auch nicht ganz billig. Er liefert sie aus in schwarzen Kunststoffrohren, den Tubes, die er abends mit dem Velo und einem Glücksgefühl zur Post bringt. Horvath hat mittlerweile ein gutes Dutzend Modelle im Angebot und einige Entwürfe in der Schublade.
Jedes der Modelle hat seinen eigenen Charakter. Der eine Drachen fliegt ruhig und schwebend, der andere bewegt sich verspielt und agil. Und jeder trägt einen Namen, der oft ironisch auf zeitgenössisches Kulturgut anspielt und zugleich seine jeweiligen Eigenschaften widerspiegelt. Der «Long Way Home», der grösste, benannt nach einem Song von Tom Waits, fliegt gern an einer besonders langen Leine. Der «Urban Ninja» ist flink in der Luft wie ein Ninjakämpfer auf dem Boden. Und der kleinste von allen heisst ironischerweise «I’ll Be Back» – so, wie es der Terminator anzukündigen pflegt.
Eine ganze Modellserie hat Thomas Horvath «De Tomaso» getauft – zu Ehren des gleichnamigen Sportwagens, den er wegen seines breiten Hinterns und des V8-Motors als das «politisch unkorrekteste Auto überhaupt» bezeichnet. Zugleich war dieser Name aber ein politisch korrekter Kompromiss. «Der Drachen sollte eigentlich ‹Banlieue› heissen. Er ist fürs Ghetto gedacht, man darf ihn auch mal in den Asphalt fliegen oder an einer Hauskante vorbeischrammen lassen», erklärt Horvath. Doch eben: Die Bezeichnung war ihm dann doch zu heiss, zumal in jener Zeit gerade die Jugendrevolte in den Pariser Banlieues aufflammte.
Im Drachen-Labor herrscht Ordnung
Auch beim Entwerfen neuer Modelle überlässt der gebürtige Luzerner, den das Studium und die baulichen Möglichkeiten nach Zürich verschlugen, nichts dem Zufall. Er setzt sich nicht an die Nähmaschine und bastelt einfach drauflos. Zuerst ist da immer die Idee. Er überlegt sich die Flugeigenschaften, die der Drachen haben soll, und welche Spannweite ideal ist. Dann gehts ans Suchen der Formen und Winkel, der optimalen Ausrichtung der Karbon-Stäbe und -Rohre, und stets soll ein solcher Drachen auch möglichst effizient zu produzieren sein. Zwei Baupläne hat Horvath so zur Einfachheit perfektioniert, dass selbst grössere Kinder und Jugendliche die Segler bauen können. «Oft begreifen sie schneller als Erwachsene, wie es geht», sagt er.
Genauso wie bei seinen Bauplänen herrscht auch in Horvaths Drachen-Labor eine klare Ordnung. Kein kreatives Chaos, sondern aufgeräumte Coolness voller Designklassiker erwartet den Besucher. Die Schubladen der Planschränke sind angeschrieben – zumindest dort, wo es den Ästheten Horvath nicht stört. Da und dort steht auch noch ein unfertiges Fahrrad herum. Denn das ist eine weitere Passion des Tüftlers: Er baut eigene Velos, kombiniert dabei klassische Rahmen aus den Achzigern und Neunzigern mit neuster Technik. Er habe, so bekennt er, zu Hause kein Sofa. Stattdessen stehe in der Stube, die er mit seiner Partnerin teilt, eine Drehbank. Und kistenweise Rohmaterial.
Erschienen im Beobachter 20 | 2014